„Ein gewisser Diophanes, Ort und Zeit fast unbekannt, hatte die griechische Liebe zur Geometrie (um nicht Schönheit zu sagen) einst an nackten Zahlen und Zeichen verraten.”

Friedrich Kittler

Daß wir uns im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks befinden, ist knapp 70 Jahre nach den Erfahrungen, die zur Formulierung dieser These geführt haben, mehr oder weniger zu einer Selbstverständlichkeit der Kommentare künstlerischer Produktion geworden. Die Verzögerung, mit der diese Erkenntnis sich durchgesetzt hat, mag die Beobachter der Kultur heute dazu anhalten, technologische Erneuerungen mit genügend Aufmerksamkeit zu bedenken. Doch auch wenn sehr viel über die Wirkung digitaler Generierung von Bildern auf die Wahrnehmung spekuliert wird, öffnet sich immer noch ein beträchtlicher Abstand zwischen der Erfahrung, die die Veränderung der Micromaterialität im Leben mittlerweile produziert und ihrer Reflexion. Es ist wohl eher wie in jenem Werbeclip für den Erhalt eines Kulturdenkmals: Computerfunktionen pulverisieren die Ansicht von Bauwerken, aber sofort wird das Staunen über die Auflösung harter Materie in digitalen Staub beruhigt und ein architektonisches Schmuckstück mit postkartenstabiler Backsteinfarbe und holzschutzbehandelten Alterswerten wieder ins Bild gemalt – um zu sagen: “Was wäre Europa ohne die Zeichen seiner Vergangenheit?” (Andere Frage: “Was wäre Europa ohne die Diktatur des Privateigentums?”) Der Pixelwirbel bleibt dennoch als eine Substanz mit unfaßbarer Zauberkraft in Erinnerung. Durch die Ritzen der alten Gewohnheiten ist sie mittlerweile überall in die Erfahrung eingedrungen. Schnappschüsse, Musikmitschnitte, Interviews, Telefongespräche, Homevideos – das analoge Aufzeichnungsrelief des Alltagslebens wird von den feineren Übertragungswegen aufgelöst. Die Daten scheinen wie von der Luft getragen zwischen den Abspielstationen zu kommunizieren. Eine vielfältige Wandlungsfähigkeit und unbegrenzbare Erscheinungskraft wirkt in die Vorstellungen über Aufzeichnungen der Wirklichkeit, dicht gefolgt von den Schatten ungebremster Kontrollphantasien. Diese Vorstellungen haben sich noch nicht von der wählerischen Eitelkeit der Stecksysteme oder anderen Inkomppatibilitätsexzessen der Technologielieferanten irritieren lassen; sie sind, wenn man sie zum Beispiel als Stoff künstlerischer Praxis erkennt.

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